Mario Del Pero

Europa und der globale Obama

Barack Obamas sechstägige Europareise hat mit einem Besuch in der winzigen irischen Stadt Moneygall begonnen. Von hier aus wanderte 1850 sein Ur-Ur-Ur-Grossvater 19-jährig in die USA aus. Ja, es gibt auch irisches Blut in Obamas Venen, und seine entfernten irischen Cousins haben den US-Präsidenten gestern in Moneygall frenetisch begrüsst.

Die Faszination und Bewunderung, auf die Obama weltweit stösst, beruht nicht nur auf seiner Bereitschaft, die USA nach Bushs unilateraler Entfremdung wieder mit der Welt zu versöhnen, sondern auch auf seiner Fähigkeit, die Welt in ihrer Gesamtheit zu symbolisieren und zu fassen. Durch seine einzigartig kosmopolitische Biografie hat Barack Obama der Idee neues Leben eingehaucht, dass Amerika nicht nur ein Teil der Welt ist, sondern dass Amerika die Welt ist. In den Augen der Weltbevölkerung ist Obama gleichzeitig Amerikaner, Afrikaner und Asiate – letzteres wegen seiner Kindheit in Hawaii und Indonesien. Und nun entdecken wir mit leichter Verwunderung, dass es beim «globalen Obama» auch eine europäische Komponente gibt. Wir sollten nicht überrascht sein. Das globale Amerika – die USA als die Welt – ist und war immer europäisch. Unsere Überraschung und die daraus folgende Aufmerksamkeit, die wir nun der Moneygall-Saga widmen, ist zum Teil erklärbar durch die fortschreitende Abnahme der Bedeutung des historischen Nexus – strategisch, politisch, wirtschaftlich und kulturell – zwischen Europa und den USA. In den vergangenen 30 Jahren wurden wir Zeugen einer signifikanten Schwächung der Wichtigkeit von «Atlantica» – den Normen, Institutionen und Praktiken, welche die Beziehungen zwischen den USA und Europa gepflegt und diszipliniert haben.

«Atlantica» basierte auf ein paar grundsätzlichen Annahmen: die anerkannte geopolitische Zentralität Europas; die Existenz einer klar definierten externen Bedrohung (die Sowjetunion); das Bedürfnis, auf europäischer Seite, nach amerikanischem Schutz; intensive Kooperation in Handels- und Finanzfragen; die Akzeptanz von Liberalismus unter amerikanischen und europäischen Eliten, eine politische und ideologische Lingua franca, die man Atlantizismus nannte. Diese Bedingungen sind graduell verschwunden und «Atlantica» kann inzwischen nur mehr noch in den Institutionen der Nato und einigen alten Denkfabriken gefunden werden. Europa muss nicht mehr länger von den USA beschützt werden. Kanada, China, Mexiko und Japan sind für die USA viel interessantere Handelspartner als jedes europäische Land – 2010 machten die deutschen Exporte nach Amerika gerade einmal 20 Prozent der chinesischen Exporte aus. Die Zentralbanken Japans und China zusammen halten beinahe die Hälfte der amerikanischen Schulden in ausländischen Händen. Monetäre Zusammenarbeit unter der Hegemonie des Dollars wurde ersetzt durch teilweise explizite Rivalität zwischen dem Euro und dem Dollar, während die Hauptachse internationaler Finanzbeziehungen ostwärts gewandert ist und sich heute zwischen dem Dollar und dem Renminbi, der chinesischen Währung, abspielt. Zudem sprechen auch nur noch wenige Politiker die Sprache des zentristisch-liberalen Atlantizismus: der mächtige nationalistische Exzeptionalismus, welche inzwischen den öffentlichen und politischen Diskurs in den USA dominiert, wird heute häufig gespiegelt in Europa durch die Rückkehr von Mikro-Nationalismus oder die Entwicklung einer Art anti-exzeptionalistischen Geschichtsschreibung – Europa als die zivile, friedfertige und gutmütige Macht.

«Atlantica» gibt es heute nicht mehr. Der atlantische Moment war demnach nur ein Einschub in der Geschichte der US-Aussenpolitik, von 1941 bis 1991 – wie es der Historiker Bruce Cumings in seinem grandiosen Werk «Dominion from Sea to Sea: Pacific Ascendancy and American Power» (2009) charakterisierte. Aber trotzdem: die USA und Europa scheinen einander auch heute noch gegenseitig zu brauchen, wie wir von den Krisen in Libyen, Afghanistan bis zum Atomstreit mit Iran und dem unlösbaren Nahostkonflikt fast täglich realisieren. Zwar weniger geeint als in der Vergangenheit, teilen die beiden Seiten des Atlantiks Ressourcen, Positionen, Perspektiven und Ziele. Sie geben nicht vor, eine Einheit zu repräsentieren wie früher. Aber sie wissen, dass sie einander irgendwie perfekt ergänzen – dass sie viel mehr gemeinsam erreichen können als allein.

Das wird Obama seinen europäischen Gesprächspartnern diese Woche sagen. Er wird die Europäer auch daran erinnern, dass sogar der globale Präsident eines globalen Amerika immer noch einen entfernten Cousin hat in einer abgelegenen irischen Stadt.

Mario Del Pero – Aargauer Zeitung, 24 Mai 2011